Ich war jung und nicht sehr motiviert zu arbeiten an diesem wunderschönen, warmen Frühlingstag. Als Lehrling im Kanton Bern war arbeiten angesagt. In meinem Wohnkanton Solothurn hätte ich frei gehabt, weil es ein katholischer Feiertag war. Ich empfand es als derbe Ungerechtigkeit, dass KV-Kollegen und Kolleginnen über der Kantonsgrenze frei machen konnten während ich im Archiv Briefkopien ablegen musste. Ich überlegte mir, was gegen diesen Missstand zu tun sei. Es war kurz vor der Mittagspause, als ich eine Idee hatte. Entschlossen ging ich zu meinem Chef und eröffnete ihm, ich hätte um 15.00 Uhr einen Zahnarzttermin in der Praxis der Schulzahnklinik meiner Wohngemeinde. Ich bemerkte schon, dass meine Ankündigung nicht sehr glaubhaft entgegen genommen wurde. Aber man liess mich gehen. Klar, dass ich den ganzen Nachmittag frei machte und nicht mehr zur Arbeit erschien, immerhin rentierte es sich nicht mehr, nach dem Klinikbesuch mit dem Zug zurück nach Utzenstorf zu fahren.
Je näher der Abend kam, desto stärker nagte mein schlechtes Gewissen an mir. Ich fürchtete arge Sanktionen. Es war schon spät, als ich an der Wohnungstür des Zahnarztes läutete. Er wohnte über der Schulzahnklinik, wo ich Ende der Schulzeit noch behandelt worden war. Der Zahnarzt war noch der selbe. Sein Name war Dr. Glück! Ich beichtete ihm meine Lüge und sagte, dass ich eine Rückfrage meines Chefs befürchte. Ob er da nicht ein Auge zudrücken und meinen fiktiven Termin bestätigen könnte. Der Zahnarzt liess mich im Ungewissen und sagte, er wolle sehen, was sich machen liesse.
Viele Jahre später, es müssen ca. 15 Jahre gewesen sein, arbeitete ich in Bern als Klavier- und Orgelverkäufer in der Klavierfabrik Schmidt-Flohr AG. Ein Mann in mittleren Jahren betrat den Showroom in Begleitung seines Sohnes. Ich führte ihm verschiedene Heimorgeln vor. Als der Herr meinen Namen erfuhr, sagte er, ich käme ihm bekannt vor. Ich sagte: "Ja, Sie sind Dr. Glück, mein damaliger Schulzahnarzt". Logisch kamen wir auf meine Lüge als kaufm. Lehrling zu sprechen und er bestätigte mir, dass mein Chef anderntags angerufen und gefragt habe, ob ich wirklich einen Termin bei ihm wahrgenommen hätte. Ich sagte, ich hätte nie eine Rüge bekommen. Er darauf mit einem Grinsen: Na klar, ich habe ja damals auch deine zahnärztliche Behandlung bestätigt. Ich bedankte mich nachträglich und registrierte für mich: Ein Zahnarzt mit Herz für einen gequählten Lehrling!
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